1. Wie ich das Kriegsende erlebte
Erinnerungen einer Zeitzeugin:
>>In der Nacht zum 7. Mai wurden meine Eltern und ich 
            aus dem Schlaf gerissen. Schwere Militärfahrzeuge kamen aus der Richtung 
            Reichenbach in unser Dorf. Mein Vater sagte: "Die Russen sind da", 
            eilte schnell ans Fenster und stellte fest, daß es deutsche Soldaten 
            waren. Gegenüber von unserem Haus, auf dem Brauereiplatz, standen am 
            Morgen viele Fahrzeuge, Soldaten liefen auf der Reichenbacher Straße 
            hin und her und die Anlieger der Straße fragten die Soldaten, wie 
            weit die Russen vom Ort entfernt wären. Sie sagten: "Der Russe 
            wird bald einmarschieren, flüchtet so schnell ihr könnt über 
            die Tschechei nach dem Westen". 
            Panikstimmung breitete sich unter den Einwohnern aus. Keiner wußte 
            so recht, ob er bleiben oder vor den Russen flüchten sollte. Mein Vater 
            ging morgens wie immer ins Büro der Firma WH&W und es wurde ihm 
            gesagt, daß kurz vor Mittag ein Lkw mit wichtigen Betriebsunterlagen 
            durch die Tschechei in den Westen fährt. Außer den aufgeladenen 
            Kisten könnten noch ca. 10 Betriebsangehörige mitfahren. Mein 
            Vater entschloß sich dann, mit meiner Mutter und mir mitzufahren. 
            Mit uns fuhren noch Frau F. mit ihren Töchtern Waltraud und Rosemarie, 
            das Ehepaar K. und 2 junge Frauen mit ihren Kindern, ein kleiner Junge und 
            ein Mädchen. Mit Handgepäck fuhren wir in der Mittagszeit mit 
            dem Lkw in Richtung Hausdorf. Auf der Straße nach Erlenbusch in Richtung 
            Tannhausen herrschte ein Chaos. Rechts der Straße hatte sich ein langer 
            Zug gebildet von Flüchtenden mit allen möglichen Fahrgelegenheiten, 
            links der Straße waren die Soldaten mit ihren Fahrzeugen. Schrittweise 
            ging es vorwärts, im Hintergrund hörten wir schon Kanonendonner. 
            Auf der großen Eisenbahnbrücke zwischen Erlenbusch und Tannhausen 
            sahen wir Soldaten, die Sprengladungen anbrachten (zur Sprengung ist es 
            aber nicht mehr gekommen). Von Blumenau aus fuhren wir ins Reimsbachtal 
            in Richtung Grenze. Es dunkelte schon, in zwei Schlangen ging es langsam 
            auf der Straße voran.
            Auf einmal war aus der Richtung vom Hornschloß her Maschinengewehrfeuer 
            zu hören. Bald darauf kamen Soldaten auf der Straße angerannt 
            und riefen: "Alles zurück, der Russe ist durchgebrochen". 
            - Wir waren von den Russen eingeschlossen! - Die Weiterfahrt über die 
            Grenze nach der Tschechei war nicht mehr möglich. Mit unserem Lkw gerade 
            an einem Haus angekommen, konnten wir in den Hof fahren. Jetzt mußte 
            schnell gehandelt werden. Zuerst wurden die Kisten abgeladen und auf dem 
            Dachboden des Hauses untergestellt. Der Lkw blieb auf dem Hof (übrigens 
            wurde der Lkw mit Ladung später in die Fabrik zurückgefahren). 
            Wir beschlossen nach Wüstewaltersdorf zurückzugehen. Mein Vater 
            kannte sich in der Gegend gut aus. Wir verließen die Straße 
            und gingen im Schutze des Waldes in Richtung Wüstegiersdorf. Über 
            Feldwege und Wiesen liefen wir in der Nacht bis wir an ein Waldstück 
            in der Nähe der ev. Kirche in Wüstegiersdorf ankamen. Durch den 
            Ort konnten wir nicht mehr, wir hörten laute russische Stimmen, Pistolenschüsse 
            und das Einschlagen von Haustüren. Erschöpft von dem langen Weg 
            und frierend saßen wir im Wald. Wie die kleinen Kinder den Nachtmarsch 
            überstanden haben, ist mir heute noch ein Rätsel. Mit dem Rucksack 
            auf dem Rücken hatte ich beide Kinder an der Hand und mußte sie 
            oft hinter mir herziehen, die Mütter hatten ja das Handgepäck 
            zu tragen. Im Morgengrauen kam ein Reiter auf uns zu, es war ein deutscher 
            Soldat auf dem Weg in Richtung Grenze. Wie weit mag er wohl gekommen sein?
            Am Vormittag kam ein Junge aus dem Dorf, er rief laut in den Wald: " 
            Der russische Kapitän fordert alle Deutschen auf aus dem Wald zu kommen. 
            In 1 Stunde wird der Wald unter Beschuß genommen." Daraufhin 
            verließen wir den Wald und kamen bei der ev. Kirche auf die Hauptstraße, 
            die von Wüstegiersdorf nach Oberwüstegiersdorf nach der tschechischen 
            Grenze in Richtung Braunau führt.
            Hier sahen wir die ersten Russen auf ihren Panjewagen mit wehenden roten 
            Fahnen. Die Pferde wurden gerade gefüttert und sie nahmen wenig Notiz 
            von uns und so zogen wir ungehindert an der Kolonne vorbei. Gleich hinter 
            der Kirche bogen wir von der Hauptstraße in die Straße nach 
            Kaltwasser ein, wo keine russischen Truppen in Anmarsch waren. Im Geburtshaus 
            meines Vaters in Kaltwasser fanden wir erst einmal eine Bleibe. Auf dem 
            Dachboden konnten wir uns ausruhen und aufwärmen. Die Ruhepause dauerte 
            nicht lange, da kamen Russen ins Haus und suchten nach deutschen Soldaten. 
            Sie fanden uns auf dem Dachboden, und als sie sich überzeugt hatten, 
            daß Herr K. und mein Vater keine Soldaten waren, gingen sie wieder 
            nach großem Palaver. Als keine Russen mehr auf der Straße zu 
            sehen waren, verließen wir das Haus. 
            In Rudolfswaldau erlebten wir den ersten großen Schrecken mit einem 
            betrunkenen Soldaten. Laut schimpfend stand er an einem Haus und richtete 
            die Pistole auf uns. Meine Mutter und ich gingen am Schluß unseres 
            kleinen Trupps. Diesen Moment werde ich nicht vergessen, denn ich rechnete 
            damit, jeden Augenblick in den Rücken geschossen zu werden. Kurz darauf 
            kamen uns einige Russen, darunter ein Offizier, entgegen. Sie hielten uns 
            an und ein Russe fragte: "Wie spät?" Alle schauten auf die 
            Uhr und sofort griffen die Russen danach und rissen mit dem Ruf "Uhri, 
            Uhri" die Uhren vom Handgelenk, auch Armbänder und Ringe verschwanden 
            in ihren bereits vollgefüllten Taschen. In der zweiten Reihe stehend 
            konnte ich noch blitzschnell den Verschluß meiner Armbanduhr öffnen 
            und die Uhr am Arm nach oben schieben; diese Armbanduhr besitze ich heute 
            noch. Mein lieber Großvater aus Breslau hatte sie mir zum 10. Geburtstag 
            geschenkt. Was dann geschah wird mir unvergeßlich bleiben. Der Offizier 
            sagte auf einmal zu mir: "Du mitkommen". Am ganzen Körper 
            zitternd klammerte ich mich an meine Mutter und auf das flehentliche Bitten 
            meiner Mutter, ihr einziges Kind nicht mitzunehmen, ließ er von seinem 
            Vorhaben ab und ließ uns weiterziehen. Im Grund angekommen sahen wir 
            russische Soldaten mit ihren Panjewagen die Straße hochkommen. Schnell 
            bogen wir in einen Seitenweg ein und suchten Schutz in einem kleinen Bauernhaus. 
            Hier hörten wir, daß sich in der Nacht Frau B. mit ihren 4 Töchtern 
            und ihre Eltern, vergiftet hätten. Sie warnten uns davor nach Wüstewaltersdorf 
            zu gehen, da dort die Hölle los sei. In den Häusern würde 
            immer noch geplündert, die Russen wären total betrunken und vergewaltigten 
            die Frauen. Die Besitzer des Hauses boten uns an bei ihnen zu übernachten. 
            Aus Platzmangel mußten die 2 Frauen im Nebenhaus schlafen. In einem 
            kleinen Zimmer im Dachgeschoß schliefen wir teils im Bett und auf 
            dem Fußboden liegend. Nachts erwachten wir durch das laute Herannahen 
            betrunkener Russen. Sie polterten an die Haustür, und als nicht gleich 
            geöffnet wurde, schössen sie in die Luft und die Besitzer öffneten 
            angstvoll die Tür. Die russischen Soldaten suchten nach "Matkas". 
            Die Hausbesitzer konnten sie nicht abhalten nach oben zu gehen. Polternd 
            hörten wir sie die Treppe hochkommen. Es war wie ein Wunder, daß 
            sie auf dem Gang, wo unser Zimmer versteckt hinter einem Mauervorsprung 
            lag, die Zimmertür nicht sahen - furchtbare Minuten erlebten wir! - 
            Sie gingen wieder zurück und wir hörten sie auf der anderen Seite 
            auf dem Heuboden mit Gabeln das Heu durchsuchen in der Annahme, dort versteckte 
            Frauen zu finden. Wütend verließen sie das Haus, drangen in das 
            Nebenhaus ein, wo sie unsere Frauen fanden und vergewaltigten. Am anderen 
            Morgen erfuhren wir von dem schrecklichen Geschehen. Herzzerreißend 
            war der Anblick dieser Frauen, ihre Gesichter sehe ich heute noch vor mir. 
            Daraufhin verließen wir die gewährte Unterkunft und hörten, 
            daß viele Dorfbewohner bei der Familie S. im "Kessel" im 
            Grund Unterschlupf gefunden hätten.
            Als wir dort ankamen, waren bereits 70-80 Personen, darunter auch einige 
            Kinder, im Haus. Alle Zimmer waren belegt, auch im Treppenhaus war kaum 
            noch Platz. Wir fanden noch Sitzplätze auf den Stufen und haben wohl 
            2 Tage und Nächte dort verbracht. Die Familie S. versorgte unermüdlich 
            die vielen Menschen mit heißem Tee. Das verstecktliegende Haus unterhalb 
            der Straße nach Grund wurde von den vorbeiziehenden Russen nicht bemerkt. 
            In der Nacht drang kein Lichtstrahl nach draußen, selbst die kleinen 
            Kinder verhielten sich ruhig, sie müssen wohl die Gefahr gespürt 
            haben.
            Aus dem Dorf drang die Nachricht zu uns, daß sich eine russische Kommendantur 
            im Kasino niedergelassen hätte. Der Kapitän und seine Mannschaft 
            kontrollierten die Fabrik und sorgten für erste Ruhe im Dorf. Nachdem 
            auch die letzten russischen Truppen das Dorf verlassen hatten, wagten wir 
            die Rückkehr ins Dorf. In der Nacht des Russeneinmarsches hatten sich 
            bei uns im Haus Tragödien abgespielt. Ein junges Mädchen wurde 
            mehrmals von betrunkenen Russen vergewaltigt. Sie konnte auf den Wäscheboden 
            entfliehen, wo sie in letzter Minute ihr Großvater fand und vor dem 
            Erhängen rettete. Eine junge Frau, die noch im Wochenbett lag, wurde 
            auch mehrmals vergewaltigt. Unsere Wohnung fanden wir ausgeplündert 
            und in einem schrecklichen Zustand vor. Viele unwiederbringliche Gegenstände 
            waren gestohlen. Viele Tage brauchten wir, um die Wohnung wieder in Ordnung 
            zu bringen.<< 
          
